Tipp des Monats: Zirkusprojekt für Kinder mit geistiger Behinderung

Das Faszinierende am Zirkus ist, dass man in eine andere Welt eintritt.

Jonglieren (c) LSB NRW, Foto: Erik Hinz
Jonglieren (c) LSB NRW, Foto: Erik Hinz

In dieser ist es egal, wie alt man ist, welcher Kultur man angehört, welche Interessen man verfolgt, ob man männlich oder weiblich ist, wie groß oder klein man ist und ob man körperlich oder geistig beeinträchtigt ist. Hier kann der Kleinste auf einmal zum Größten werden. Dies trifft nicht nur auf die große Manege zu, sondern gilt auch für zirkuspädagogische Projekte, bei denen Kinder dank differenzierter Ansprache groß herauskommen und zudem in ihren sozialen, personalen und motorischen Kompetenzen gefördert werden können.

Damit passt der zirkuspädagogische Ansatz hervorragend in die aktuelle Kompetenzorientierung innerhalb der Sportpädagogik. In dieser Kompetenzdebatte gerät der Blick auf Kinder mit Behinderung allerdings meist noch in den Hintergrund. Auch liegt der Fokus bei Inklusionsbemühungen im Sportkontext bei der Mehrzahl der Konzepte immer noch auf Kindern mit körperlichen Beeinträchtigungen.

Chancen von Sport bei der Arbeit: Kinder mit Förderschwerpunkt "geistige Entwicklung"
Doch auch Kinder mit geistiger Behinderung profitieren in vielfacher Hinsicht von Sport: Die für die Zirkuskünste typische Schulung von Kondition und Koordination sorgt für ein besseres Körperbewusstsein des eigenen und des fremden Körpers und fördert so die motorische Kompetenz. Es werden jedoch nicht nur motorische, sondern immer auch kognitive Lernprozesse ausgelöst, beispielsweise wenn es darum geht, Übungsabfolgen zu lernen, zu erinnern und zu merken oder zu verstehen, wie bestimmte Übungen funktionieren. Zudem kann Sportunterricht zur Förderung der Emotionsregulation beitragen, Regelverständnis, Rücksichtnahme, Kooperation, Fairplay und Verantwortungsbereitschaft fördern und somit die sozialen Kompetenzen steigern.

Zirkusprojekt
In einer Schule für Kinder mit Förderschwerpunkt "geistige Entwicklung" wurde in den Klassen 1-4 ein Zirkusprojekt durchgeführt, indem innerhalb von acht Wochen acht Unterrichtseinheiten á 70 Min. mit den Schwerpunkten Äquilibristik, Hand- und Fußgeschicklichkeiten und Akrobatik durchgeführt wurden. Zum Abschluss wurde das Gelernte vor einem Publikum aufgeführt.
Anhand dieses Projektes werden die Möglichkeiten der Zirkuspädagogik als Bewegungsanlass für Kinder mit geistiger Behinderung gezeigt. Die positiven Erfahrungen dieses Projektes, welches sich jetzt etabliert, verweisen nicht nur auf die Möglichkeiten der Kompetenzorientierung in diesem Bereich, sondern machen auch Mut, Sport noch viel intensiver als bisher im Kontext der Arbeit mit geistig behinderten Kindern zu denken.

DasPraxisprojekt
Grundsätzliches zur Durchführung

  • Zu jeder auszuführenden Bewegung wird den Kindern ein Bild mit der jeweiligen Abbildung gezeigt. Damit wird sichergestellt, dass alle Schüler verstehen, was sie im Folgenden tun sollen.
  • Die Kinder benötigen sehr unterschiedlich viel Zeit, um eine Übung umzusetzen. Deshalb ist ganz viel Geduld im Lernprozess erforderlich.
  • Der Unterricht berücksichtigt die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder und nutzt deshalb verschiedene Möglichkeiten der inneren Differenzierung und Individualisierung.
  • Bereits gelernte Bewegungsabläufe werden in jeder Stunde wiederholt. Andernfalls ist die Gefahr groß, dass die Fortschritte schnell verloren gehen.

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Äquilibristik (UE 1-3)
Das Zirkusprojekt beginnt mit Übungen zur Äquilibristik.
Aufgaben:

1. Balancieren auf einer Langbank
2. Balancieren auf der umgedrehten Langbank
3. Balancieren über ein am Boden liegendes Seil
4. Balancieren auf der Slackline
5. Zusatzaufgabe für die motorisch leistungsfähigeren Kinder: auf den Geräten rückwärts gehen

Durchführung: Zunächst übernehmen Lehrer und Schulbegleitungen die Rolle der Hilfestellung. Nach und nach kann - gerade bei den leichteren Übungsformen - diese Aufgabe von den Kindern selbst übernommen werden. Das Balancieren über diese vier Geräte wird drei Unterrichtseinheiten lang geübt. Das Balancieren über die Bank und die umgedrehte Bank wird zu Beginn jeder folgenden Stunde als zusätzlicher Teil zum Aufwärmen wiederholt.
Ziel: In der Äquilibristik werden vor allem Kooperations- und Empathiefähigkeit sowie Verantwortungsbewusstsein und Vertrauen in andere gefördert. Beim gegenseitigen Helfen lassen sich über den Handkontakt die Empfindungen des Balancierenden feststellen. Die Hilfestellung kann darauf reagieren und den Artisten zusätzlich mental unterstützen. Auf der motorischen Ebene fördert die Äquilibristik vor allem den Gleichgewichtssinn.

Hand- und Fußgeschicklichkeit (1 UE)
Aufgaben: In der vierten Unterrichtseinheit probieren die Kinder Hand- und Fußgeschicklichkeiten aus. Dafür werden die Zirkuskünste Jonglieren mit Tüchern, Schwingen von Pois (z. B. Schweif-Pois) und Jonglieren mit Ringen ausgewählt.

Jonglieren mit Tüchern:

  • ein Tuch hochwerfen und wieder fangen
  • für die motorisch leistungsfähigeren: zwischen Werfen und Fangen klatschen
  • für die motorisch Leistungsfähigeren: zwischen Werfen und Fangen sich selbst um die eigene Achse drehen.

Ziel: Um beim Jonglieren Erfolg zu haben, ist viel Übung und eine gute Konzentration erforderlich. Zudem stellt jonglieren wie kaum eine andere Tätigkeit höchste Anforderungen an die Augenbeweglichkeit, die visuelle Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit sowie an die motorische Reaktionsfähigkeit der Hände dar. Jonglieren fördert die Koordination der rechten und linken Körperhälfte und verbessert die Auge-Hand-Koordination, die bei Menschen mit geistiger Behinderung oft nicht gut ausgebildet ist.

Poi-Schwingen: induktive Vorgehensweise:

  • Jedes Kind bekommt ein bis zwei Pois. Nun probieren sie aus, welche Bewegungen sie damit durchführen können. Schnell zeigt sich, dass das Schwingen auf verschiedene Arten möglich und für jeden machbar ist und es vor allem Spaß macht. Durch gegenseitiges Beobachten probieren die Schüler auf unterschiedliche Arten und Weisen aus, die Pois zu schwingen.

Ziel: Wie beim Jonglieren fördert auch das Poi-Schwingen die Verknüpfung der rechten und linken Gehirnhälfte sowie die Auge-Hand-Koordination. Allerdings haben die Kinder mit den Pois schnelle Erfolgserlebnisse und erfahren dadurch eine Selbstverstärkung, was dazu führt, dass mit viel Selbstdisziplin immer neue Bewegungen ausprobiert werden.

Ringe jonglieren:

  • Die Kinder versuchen, die Ringe um verschiedene Körperteile kreisen zu lassen.
  • Ohne Hilfestellung ist dies nur für wenige Kinder möglich. Deshalb stellen sich die Schulbegleiter gegenüber den Schülern auf, nehmen sie an der Hand und führen diese so, dass der Ring sich im Kreis dreht.
  • Wenn das gut funktioniert, kann das Kind sich weitere Ringe nehmen und diese entweder an einem oder an beiden Armen kreisen lassen.

Ziel: Auch beim Ringe jonglieren wird die Koordination verbessert, wie beispielsweise die Koordination von Teilbewegungen und die Rhythmisierungsfähigkeit. In der Partnerarbeit können die Kinder faszinierende Effekte erzielen, was ein gemeinsames Erfolgserlebnis darstellt und eine Stärkung der Kooperationsfähigkeit.

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Akrobatik (1 UE)

* Bank: Die Schüler lernen Bankstellung einzunehmen.
* Bank auf Bank: Lehrer und Schulbegleitungen fungieren als Hilfestellung. Die Kinder bauen zwei Bänke aufeinander. Dafür bekommen sie genau gezeigt, welche Punkte ihres Untermannes sie berühren dürfen und welche nicht (Schulterblätter und Beckenschaufeln, keine Belastung der Wirbelsäule).
* Stand auf Bank: Hatte jede Kleingruppe die "Bank-auf-Bank-Übung" geschafft, lernen die Kinder, auf der Bank zu stehen. Hier bekommen die Kinder die Anweisung, dass sie nur auf das Becken steigen dürfen und langsam von ihrem Bank-Partner heruntersteigen müssen. Herunterspringen wird ausdrücklich verboten.

Ziel: In der Akrobatik werden vor allem das Verantwortungsbewusstsein der Schüler und das Vertrauen in andere geschult. Durch das Tragen des Gewichts eines anderen werden zudem die Stützkraft sowie die Kraftausdauer erhöht. Sowohl beim Ober-, als auch beim Untermann soll die Konzentrationsfähigkeit erweitert werden, denn während der gesamten Ausführungszeit müssen sich beide stark konzentrieren, eine große Körperspannung halten und mögliche Probleme wahrnehmen. Besonders bei der dritten Variante "Stand auf Bank" lernen die Kinder, ihre Ängste abzubauen und genießen den Mut, den sie aufbringen.

Verfestigen und eine Aufführung zum Abschluss (2 UE)
In den nachfolgenden zwei UE werden alle gelernten Inhalte in der für eine abschließende Aufführung bestimmten Reihenfolge mit den Kindern geübt. Bei der Aufführung werden von allen Kindern alle Übungen in der ihnen jeweils möglichen Form gezeigt. Zwei Lehrer sind dabei hinter der Bühne und bereiten die Kinder vor, ein Lehrer hilft auf der Bühne und führt durch die Vorführung!
Die Vorbereitung der Aufführung und die Aufführung selbst, stellen eine gute Förderung kognitiver Kompetenzen dar, da es hier zentral um Anforderungen wie Aufmerksamkeit, Erinnerung und Konzentrationsfähigkeit geht. Die Kinder müssen sich die Reihenfolge der Übungen merken, wann sie dran sind etc. Durch die Förderung dieser kognitiven Fähigkeiten wird vor allem auch die Merkfähigkeit der Kinder entwickelt.

Schlussbemerkung
Das Zirkusprojekt hat bewirkt, dass die Kinder sich in ihrem motorischen Kompetenzen deutlich verbessern konnten, dass die Kommunikation innerhalb der Gruppe befördert wurde und vor allem, dass die Kinder enorm viel Selbstwirksamkeit erfahren konnten und Selbstbestätigung bekamen. Auch die Betreuer und Angehörigen waren überrascht, was die Kinder zu leisten im Stande waren. Diese Effekte durch - wie es manchem erscheinen mag - so einfache Übungen zu erzielen, deren Ergebnisse sich dennoch so wirkungsvoll präsentieren lassen, zeigt nicht nur die Bedeutung von Sport in der Arbeit mit Kindern mit geistiger Behinderung, sondern den besonders wertvollen Zugang, den die Zirkuspädagogik für diese Zielgruppe darstellt.

Theresa Richter studiert Sport und Deutsch für das Lehramt am Gymnasium an der Universität Regensburg. Sie arbeitet als Trainerin in einem Kinder- und Jugendzirkus und führte ein Zirkusprojekt an einer Schule für Kinder mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung durch.
Dr. Uta Engels leitet das Sportzentrum der Universität Regensburg.

Dieser Artikel erscheint auch in der Zeitschrift SportPraxis 5+6/2015 www.sportpraxis.com


  • Jonglieren (c) LSB NRW, Foto: Erik Hinz
    Jonglieren (c) LSB NRW, Foto: Erik Hinz