Das Risiko für Übergewicht, Stoffwechselerkrankungen und sogar aggressives Verhalten steigt dadurch, wie Studien gezeigt haben.
Wenn man den Alltag durchforstet und sich überlegt, wie viel Zeit man im Sitzen verbringt, so wird man erstaunt sein, wie viele Stunden zusammenkommen: Nach dem Aufstehen sitzt man beim Frühstück, danach viele im Auto oder Bus auf dem Weg in den Kindergarten, die Schule oder zur Arbeit. In der Schule wird dann sogleich wieder gesessen, bei der Arbeit ebenso. Selbst in der Freizeit sind viele "Aktiv"itäten mit Sitzen verbunden: Fernsehen, Computer-Nutzung, Videospiele, im Café oder beim "Chillen" mit Freunden, im Theater oder Kino: an all diesen Orten und bei jenen "Aktiv"itäten wird gesessen. Es existiert eine Kultur des Sitzens, in der viele Tätigkeiten des Alltag mit Sitzen assoziiert sind: Besprechungen, Lernen, Lesen, Telefonieren, Essen, Kulturgenuss etc. - überall hier wird die eigentliche Tätigkeit durch Sitzen begleitet.
Diese Kultur des Sitzens tritt allerspätestens und sehr massiv mit Beginn der Schulzeit in das Leben: Allen Konzepten von "bewegter Schule" zum Trotz ist das Stillsitzen-Können das zentrale Merkmal von Schulunterricht und nach wie vor eine Kompetenz, die von Schulkindern mit Eintritt in die Schule erwartet wird und von der - auch - immer noch Leistung abgeleitet wird. Kein Wunder also, dass ein Grundschulkind in Deutschland durchschnittlich neun Stunden pro Tag im Sitzen verbringt - Tendenz mit jedem Lebensjahr steigend! Damit verbringen Kinder und Jugendliche etwa 70 Prozent ihrer Wachzeit im Sitzen.
Dies ist doppelt dramatisch: zum einen, da Kinder im Alter von sieben Jahren den Höhepunkt ihres Bewegungsdrangs erreicht haben - gerade zu dem Zeitpunkt, wo man ihnen die Bewegung abgewöhnt und sie in einen sitzenden Lebensstil zwingt; zum anderen, weil bekannt ist, dass ein in der Kindheit etablierter sitzender Lebensstil mit hoher Wahrscheinlichkeit mit ins Erwachsenenalter genommen wird und sich die Gewohnheit des häufigen Sitzens nicht mehr ändert.
Was ist das Problematische an diesem "sitzenden Lebensstil"?
Bei längerem Sitzen fährt der Stoffwechsel seine Aktivität drastisch zurück, weshalb der Energieverbrauch im Sitzen extrem gering ist und nur knapp über den energetischen Ruheumsatz des Menschen liegt. Diese Tatsache ist Fachleuten natürlich seit Langem bekannt, aber bislang war man der Ansicht, dass die negativen Auswirkungen dieses sitzenden Lebensstils durch ausreichende Bewegung kompensiert werden könnten. Dass dem leider nicht so ist, zeigen neue und alarmierende Studien: langes ununterbrochenes Sitzen stellt einen eigenen und somit zusätzlichen Risikofaktor dar, selbst wenn man sich sonst viel bewegt und die Bewegungsempfehlungen einhält. Mit anderen Worten: Man kann den negativen Folgen des Sitzens nicht davonlaufen!
Welche Folgen hat langandauerndes und häufiges Sitzen?
Bereits im Kindes- und Jugendalter zeigen Langzeitstudien ein erhöhtes Risiko für Übergewicht und Stoffwechselerkrankungen mit der möglichen Folge einer verringerten Knochendichte. Aber auch die intellektuelle Leistungsfähigkeit ist nachweislich geringer und es kommt häufiger zu aggressiven Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen.
Im Erwachsenenalter zeigt sich, dass der sitzende Lebensstil das Risiko für Typ 2 Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Sterblichkeit erhöht. Auch die Wahrscheinlichkeit, an bestimmten Krebsformen zu erkranken, steigt.
Warum wird so viel gesessen?
Sitzen ist zumeist eine K.o.-Aktivität, im Vordergrund steht eigentlich eine andere Tätigkeit, die aber nun einmal im Sitzen durchgeführt wird. Typische Sitzaktivitäten sind häufig mit konzentrativen Tätigkeiten verknüpft und finden sich im Kontext von Schule, Studium und Arbeit. In diesen Settings gilt nach wie vor die - irrige - Annahme, dass Konzentration der körperlichen Ruhe bedürfe. Studien hingegen sprechen eine andere Spache: die geistige Leistungsfähigkeit ist bei körperlicher Aktivität höher als in Inaktivität, was u.a. daran liegt, dass selbst bei sehr moderater körperlicher Aktivität, wie bei einem Spaziergang, die Gehirndurchblutung um bis zu 20 % steigt. Auch zeigte sich, dass in Schulklassen, die bewegten Unterricht praktizieren, die Konzentrationsleistungen nachweislich besser sind. Es ist also nicht einmal klug, von Schülern stetiges Ruhigsitzen zu verlangen.
Auch der Medienkonsum hat einen entscheidenden Anteil am Anstieg der Sitzzeiten. Bereits ab dem Kindsalter (sogar ab dem Kleinstkindesalter) haben Spielzeit am Computer, Social-Media-Nutzung oder Fernsehen große Bedeutung für den Alltag von Kindern - aber auch von Erwachsenen. Gerade Smartphones als "Alleskönner" ersparen kleine wie auch große Sitzunterbrechung und Bewegung.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die gestiegene passive Mobilität: Immer häufiger werden auch kurze Wege, die mit dem Rad oder zu Fuß bewältigt werden können, mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt. Gestiegene Mobilitätsanforderungen im Beruf haben ähnliche Effekte und summieren zu den meist sitzenden beruflichen Tätigkeiten nicht selten noch lange sitzende Anfahrten hinzu.
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Was kann man tun?
Grundsätzlich geht es laut wissenschaftlicher Empfehlungen um Vermeidung unnötiger Sitzzeiten, häufige Unterbrechung der notwendigen Sitzphasen sowie der Förderung der Alltagsaktivität. Mindestens alle 20-30 Minuten sollte man aufstehen und sich bewegen.
Aber: Leichter gesagt als getan. Empfehlungen, um mehr Bewegung in den Alltag zu bekommen, werden seit Langem kommuniziert. Hinzukommen muss aber in der Tat, sich des Sitzens bewusst zu werden und es sich, so gut es eben geht, wieder abzugewöhnen. Es bedarf einer sehr genauen Analyse individueller Tagesabläufe, sitzender Tätigkeiten und vor allem relevanter Settings, um sehr gezielt intervenieren zu können. Im Folgenden werden einige Empfehlungen und Ideen zusammengetragen:
Medienkonsum
Steigender Medienkonsum bei Kindern und Jugendlichen steht in direkter Konkurrenz zu aktiven Freizeitbeschäftigungen wie Sport aber auch freiem Spiel. Studien zeigen jedoch, dass eine Einschränkung des Medienkonsums möglich ist und zu positiven Effekten führt. Deshalb: Empfehlungen zur Mediennutzung einhalten (vgl. www.BMFSFJ.de; Broschüre "Geflimmer im Zimmer"). Neben festen Zeiten hilft es, wenn Kinder kein eigenes Fernsehgerät im Zimmer haben und Medienkonsum nur in gemeinschaftlich genutzten Räumen stattfindet.
Mobilität
Der Weg zur KiTa sollte - selbst wenn das Kind beispielsweise im Krippen- oder Kindergartenalter die Strecke nocht nicht aus eigener Kraft schafft - von Anfang an ohne Auto oder Bus zurückgelegt werden, denn das Bewegungsverhalten der Eltern hat wichtige Vorbildfunktion. Gerade in der KiTa- und Grundschulzeit sind zudem die Entfernungen zur jeweiligen Einrichtung meist so kurz (nämlich meist unter drei Kilometern), sodass sie sehr früh schon von den Kindern aus eigenem Antrieb zurückgelegt werden können - zu Fuß, auf dem Laufrad, Roller oder Fahrrad. Der aktive Weg zur Einrichtung sollte eine Selbstverständlichkeit sein, gleichzeitig aber mit Spaß gestaltet werden. Gute Anregungen für die Organisation bietet beispielsweise das Projekt www.walkingbus.de.
Kinderkrippe/Kindergarten
Gerade bei Kindern im Krippen- oder Kindergartenalter ist Bewegung die natürliche "Daseinsform", deshalb sollten alle Aktivitäten im Sitzen kritisch auf ihre Notwendigkeit hin hinterfragt werden. Hier einige Anregungen:
- Kann ein morgendlicher Sitzkreis nicht auch ein Stehkreis sein?
- Stehen statt Sitzen beim Malen, Puzzeln, Basteln: Häufig ist es eine Idee von Erwachsenen, dass sie meinen, im Sitzen könnte man sich besser konzentrieren. Für Kinder stimmt dies oft nicht!
- Bewegungsspiele und tägliche Aktivität im Freien als Routine bei jedem Wetter.
- Als Erzieher Bewegungsvorbild sein.
- Verhältnis von Sitzmöbeln zu Bewegungsraum überprüfen. Oft nehmen Sitzmöbel zu viel Platz ein!
- Kooperationen mit Sportvereinen anbahnen.
(Grund-)Schule
- Aktiver Schulweg
- Bewegte Unterbrechungen zulassen (Toilettengang, Gang zum Papierkorb etc.)
- Bewegungserfordernisse in den Unterricht einbauen (Materialien und Aufgaben aktiv abholen)
- Sitzunterbrechungen/Bewegungspausen mind. alle 20 Minuten (Sitzunterberechungen führen übrigens nicht dazu, dass Unterrichtszeit verloren geht: Die Konzentrationsspanne von Kindern bis zu 7 Jahren liegt bei 15, bei 7- bis 10-jährigen Kindern bei 20 Minuten, sodass eine Unterbrechung des Sitzens nach dieser Zeitspanne ohnehin mit dem Zeitpunkt sinkender Konzentration zusammenfällt).
- Bewegtes Lernen: Lernprozesse durch und in Bewegung, Inhalte be"greif"bar und körperlich erlebbar machen
- Bewegtes Mobiliar, dynamisches Sitzen, Stehtische
- In jeder Pause nach draußen gehen - bei jedem Wetter
- Räume und Pausenhof bewegungsanregend gestalten
- Ausgabe von Bewegungs- und Sportmaterial in Pausen und Freistunden
- Keine Sitzgelegenheiten auf dem Schulhof
Betriebsliches Gesundheitsmanagement
- Bewegtes Mobiliar, weniger Sitz-, mehr Stehmöbel
- Aktive Pausengestaltung
- Stehungen statt Sitzungen! Untersuchungen zeigen, dass so die Dauer von Meetings abnehmen und das bei gleicher Qualität der Ergebnisse!
- Besprechungen als "Walk & Talk" gestalten
- Kollegen im selben Haus nicht anrufen, sondern besuchen
- Zum Telefonieren grundsätzlich aufstehen
- Auf Pezzibällen sitzen: bewegtes Sitzen ist wenigstens etwas besser als unbewegtes Sitzen
- Timer stellen: Alle 20 Minuten aufstehen!
Zum Weiterlesen:
Die Plattform "Ernährung und Bewegung" (peb) engagiert sich gemeinsam mit 80 Akteuren aus Wissenschaft, öffentlicher Hand, Wirtschaft und Zivilgesellschaft dafür, dem sitzenden Lebensstil von Kindern entgegenzuwirken. Deshalb hat sie einen Aufruf veröffentlicht:
"Aufstehen! Mehr Bewegung und weniger Sitzen im Alltag von Kindern".
Mit dem Aufruf will peb ein Signal setzen, um Politik und Gesellschaft auf das Thema sitzender Lebensstil aufmerksam zu machen und praxisnahe Empfehlungen an die handelnden Akteure zu adressieren. Auf der peb-Homepage (www.pebonline.de) findet sich nicht nur der Aufruf, sondern eine Fülle von Studienergebnissen, Literatur, Material und Empfehlungen zum Thema.
Dr. Uta Engels leitet das Sportzentrum der Universität Regensburg
Dieser Artikel erscheint auch in der Zeitschrift SportPraxis 1+2/2015 www.sportpraxis.com