Tipp des Monats: Kinder in Bewegung: Bewegte Lebenswelten schaffen und vermitteln

Ausreichende Bewegung ist unerlässlich für eine gesunde Entwicklung von Kindern - und das von Anfang an!

Ausreichende Bewegung ist unerlässlich. (c)LSB NRW/Foto: Andrea Bowinkelmann
Ausreichende Bewegung ist unerlässlich. (c)LSB NRW/Foto: Andrea Bowinkelmann

Neben Angeboten in Sportvereinen gibt es aber auch im Alltag sehr viele Möglichkeiten, dies zu realisieren, wie es die Beispiele in diesem Artikel verdeutlichen.

"Dicke Kinder" sind ein beliebtes und häufiges Thema in der Presse. In der Tat sind Meldungen über eine Zunahme von Übergewicht, Adipositas und Diabetes-Typ 2-Erkrankungen im Kindesalter genauso alarmierend wie die Tatsache, dass immer mehr Kinder keinen Hampelmann mehr können oder es nicht schaffen, rückwärts zu laufen. Ausreichende Bewegung ist daher enorm wichtig für eine gesunde Entwicklung von Kindern. Aber: Es gibt noch so viel mehr Gründe neben der körperlichen Gesundheit, weshalb man Kindern eine bewegte Lebenswelt zum Aufwachsen schaffen sollte!

Lernen braucht Bewegung
Lachen, Laufen, Essen, Weinen, Winken: Jede Äußerung, jeder soziale Akt und jede Aneignung der Umwelt benötigt Bewegung! Kinder erfassen die Welt weniger über den Kopf, sondern über die Sinne, also über den Körper. Die Sinne sind wie Antennen, mit denen Signale aus der Umwelt aufgenommen werden. Wahrnehmungserfahrungen über die Haut, über das Gleichgewichtsempfinden, die Wahrnehmung der eigenen Position und Lage im Raum vermitteln dem Kind ein Bild von der Welt und von sich selbst in ihr, sodass es Ursache-Wirkungszusammenhänge erkennen kann.
So kann man einem Kleinkind beispielsweise den Zusammenhang zwischen einer schiefen Ebene, Neigungswinkel und Wegstrecke im Hinblick auf die Rollgeschwindigkeit nicht theoretisch erklären, aber sie finden sehr schnell selbst heraus, dass ein Bobbycar umso länger und schneller rollt, je weiter man von oben den Berg hinunterfährt etc.
Auch hirnphysiologisch ist Bewegung unerlässlich, weil hierdurch Neurotransmitter freigesetzt werden, die für die neuronale Vernetzung notwendig sind. So wird die Entwicklung von Denkstrukturen besonders in der frühen Kindheit von motorischen Erfahrungen unterstützt: Je mehr motorische Erfahrungen ein Kind macht, desto komplexer werden die Verschaltungen im Gehirn.
Bewegungshandeln dient auch dem Erproben von Strategien zur Problemlösung, denn insbesondere in der frühen Kindheit erzielt das Kind Erkenntnisse nur über Handlungen, d.h. Bewegung. Diese sogenannte sensomotorische Intelligenz ist die Basis für späteres abstraktes Denken. So finden Kinder beispielsweise schon sehr früh durch reines Ausprobieren heraus, wie es am besten gelingt, einen Stapel unterschiedlich großer Bauklötze so zu stapeln, dass der Turm nicht umfällt.

Bewegung und Identitätsentwicklung
So lästig Tobsuchtsanfälle und Trotzphasen auch sind, sie zeigen dennoch auf beeindruckende Weise, dass Bewegen, Fühlen und Denken bei Kindern untrennbar miteinander verbunden sind und nicht isoliert wahrgenommen werden. Kinder ärgern sich ebenso mit dem ganzen Körper (auf dem Bauch liegen und mit den Fäusten auf den Boden schlagen), wie sie auch bei Freude mit dem ganzen Körper dabei sind ("vor Freude strahlen und hüpfen"). Somit sind Körper- und Bewegungserfahrungen auch eine wichtige erste Stufe der Ich-Identität und der Autonomieentwicklung. Bewegung und körperliches Handeln sind das wichtigste Mittel, Selbständigkeit zu gewinnen (den Schnuller ausspucken, die Jacke "selber" ausziehen...), das Größerwerden zu spüren (vom Robben zum Krabbeln zum Laufen) und dem eigenen Willen Ausdruck zu verleihen (vor Wut mit dem Fuß aufstampfen).
Positive Bewegungserlebnisse sind eine wichtige Basis für die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes (Ich kann...!). Durch das Erleben, dass sich durch Handlungen Dinge verändern und Ergebnisse erzielen lassen, entwickelt das Kind eine positive Selbstwirksamkeitserwartung. Dies gilt für das selbständige Anziehen ebenso wie für das Auf-einem-Bein-Hüpfen, Laufradfahren oder Rückwärtsgehen.

Bewegung und Sprache
Bewegungshandeln dient der Kommunikation, geht der verbalen Sprache voraus und ist Voraussetzung für diese. Durch Bewegung tritt das Kind mit der Welt in Kontakt, denn es "erfasst" Wissen durch die körperlich-sinnliche Erfahrungen, noch bevor es das "Begriffene" sprachlich formulieren kann (das Baby strampelt, weint, rudert mit den Armen...). Im weiteren Verlauf der Sprachentwicklung ist Sprache zunächst vollkommen an Situationen und Handlungen gebunden und kann erst mit zunehmendem Alter abstrakt, d. h. losgelöst von der körperlichen Erfahrung eingesetzt werden und somit auch Handlungen vorwegnehmen. So kann das Kind zunächst das Bobbycar benennen, wenn es darauf sitzt oder es sieht. Erst später ist es in der Lage, ohne das Bobbycar zu sehen, zu sagen, dass es darauf fahren möchte.

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(c)LSB NRW/Foto: Andrea BowinkelmannKinder in Bewegung bringen
Wenn - wie an diesen wenigen Beispielen gezeigt wurde - Bewegung einen so hohen Stellwert für die kindliche Entwicklung einnimmt, stellt sich die Frage: Kann man die motorische Entwicklung von Kindern fördern - und wenn ja, wie? Oder anders gesagt: Wie kann man Kinder in Bewegung bringen und was brauchen Kinder für eine bewegte Entwicklung?
Ganz allgemein kann man sagen: Kinder brauchen vielfältige Bewegungserfahrungen in offenen und anregenden Bewegungssituationen, die Reativität und Ausprobieren zu lassen. Sie brauchen motorische Herausforderungen und sensorische Sensationen, um ihre Sinne zu spüren und auszuprobieren. Und sie brauchen eine sichere Bindung, weil sie nur dann mutig und explorativ auf motorische Herausforderungen zugehen können.
Wichtigste Voraussetzung scheint in unserer Gesellschaft aber zunehmend zu sein, Kinder nicht an der Bewegung zu hindern, indem sie beispielsweise im Maxi-Cosi-Kindersitz, der Wippe oder der Lauflernhilfe "aufbewahrt" werden. Übertrieben ist auch, dass sie ständig im Kinderwagen oder Buggy gefahren werden, obwohl sie schon laufen können, sie in ihrem Bewegunsdrang aus zu großer Ängstlichkeit gebremst werden oder aber das Auto stets Vorzug vor dem "bewegten" Weg in Kindergarten oder Schule zu Fuß, mit dem Laufrad oder Fahrrad erhält.

Maxi Cosi, Wippe. Lauflernhilfe, Kinderwagen oder Stühlchen sind Hilfsmittel für Mobilität und Alltag, aber keine "Aufbewahrungsorte" für Kinder!

Bewegungsbedürfnisse von Kindern
Nickel hat 12 sogenannte Primärbedürfnisse von Kindern formuliert. Dabei handelt es sich um Bewegungsformen, die Kinder faszinieren, Spaß machen und die sie intrinsisch motiviert aufnehmen, sobald sie die Möglichkeit dazu haben, denn diese Bewegungsformen sprechen die Sinne an, alle voran das kinästhetische und vestibuläre System:

  • Spielerisches Laufen
  • Hochspringen und von oben hinabspringen
  • Schaukeln und weit in den Raum schwingen
  • Höhe erklettern und Ausschau halten
  • Den Taumel des Rollens und Drehens erleben
  • Konzentriert und erfolgreich im Gleichgewicht bleiben
  • Riskante Situationen suchen und sie meistern
  • Bewegungskunststücke lernen und vorführen
  • Bis zur wohltuenden Erschöpfung anstrengen
  • Gleiten und rutschen
  • An und mit Sportgeräten intensiv spielen
  • Sich von rollenden und fliegenden Bällen faszinieren lassen

"Übersetzt" man diese Primärbedürfnisse oder auch motorische Herausforderungen in den unterschiedlichen Settings wie Familie, Kindergarten und Schule in die Architektur, die Raumgestaltung aber insbesondere auch die Gestaltung des Tagesablaufs, der täglichen Routinen und Aktivitäten so ist den Kindern eine sensomotorisch anregende Umwelt garantiert.

Grundsätzlich möchten Kinder

... in ihrem ersten Lebensjahr
* viel auf dem Bauch liegen
* viele verschiedene Gegenstände anfassen und spüren
* über Eltern/Geschwister krabbeln, kugeln und robben
* viel zu Fuß und auf dem Rad transportiert werden

... in ihrem zweiten Lebensjahr
* viel selber laufen (auch wenn sie langsam sind)
* Zeit bekommen, alles anzuschauen und zu bestaunen
* ALLES selber machen bzw. die Chance bekommen, zu versuchen, es selber zu machen.

... in der Kindergartenzeit
* bei jedem Wetter draußen sein dürfen
* in vielfältigen Spielsituationen lernen dürfen
* den Wechsel von Anspannung und Entspannung spüren

Tagesablauf und Aktivitäten

Zu Hause und im Alltag können Kinder
* die Post mit den Füßen aufheben
* eine Rolle vorwärts ins Bett machen
* auf Mauern balancieren
* bis zum nächsten Haus auf einem Bein hüpfen
* sich mit geschlossenen Augen die Haare bürsten und mit der linken Hand die Zähne putzen
* von ihren Eltern kopfüber ins Bett getragen werden
* auf dem Weg ins Kinderzimmer versuchen, den Fußboden nicht zu berühren...

Ein Spaziergang mit der Familie, im Kindergarten, mit der Schulklasse wird spannender und bewegter, wenn
* eine Pause auf einem Spielplatz gemacht wird
* alle an einem See zum Baden anhalten
* Schätze gesucht werden (www.geocaching.com)
* die Erwachsenen ein Stück so langsam gehen, dass auch die ganz Kleinen nicht im Kinderwagen sitzen müssen, sondern mitlaufen können,
* im Wald über Baumstämme balanciert und gehüpft wird
* Kinder Zeit haben, Dinge anzufassen, aufzuheben, daran zu riechen...

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Wohnumgebung und Raumgestaltung
Je häufiger Kinder die Chance haben, sich im Freien aufzuhalten und je eigenständiger sie die Möglichkeit haben, sich dort zu bewegen und die Umgebung zu erkunden und je mehr offene Anregungen sie draußen für Bewegung und Spiel haben, desto positiver ist dies. Allerdings ist es völlig klar, dass gerade dies von der Wohnumgebung (Stadt oder Land, Wohnung oder Haus, Stockwerk...) abhängt und vielfach nicht frei gestaltet werden kann! Innenräume können hier vieles wettmachen! Sie sollten gleichermaßen Sicherheit und Exploration ermöglichen, d.h. eine klare Gliederung in Rückzugsbereich und Bewegungsbereiche erkennen lassen. Auch sollten die Räume den Kindern ermöglichen, den Raum-Lage-Sinn zu erfühlen, ihre Muskeln zu spüren, mit dem Gleichgewicht zu spielen; grundsätzlich wenig vorgeben, aber viel ermöglichen. All dies gelingt z.B. durch verschiedene Ebenen im Raum (z.B. Podeste, schiefe Ebenen, Treppen, Rutschen...), den Einsatz von beweglichen Materialien (Kisten, Schläuche, Tücher...) oder Möglichkeiten zum Schwingen, Schaukeln und Rotieren.

Erwachsene als Modell:
"Wir brauchen unsere Kinder nicht zu erziehen - sie machen uns doch alles nach!"

Das Vorbildverhalten relevanter Bezugspersonen ist für eine bewegte Kindheit besonders wichtig, denn Kinder lernen am Modell! Mit anderen Worten: Nur bewegte Eltern, Großeltern, Erzieher und Lehrer haben bewegte Kinder! Neben dem Vormachen und Mitmachen ist es eine wichtige Aufgabe der Bezugspersonen, die Bewegungsmöglichkeiten, die der Alltag bietet, zu erkennen und für eine bewegte Kindheit zu nutzen.

Kinder merken sich,
* wenn Eltern die Treppe benutzen statt der Rolltreppe,
* wenn Erzieher mit Fangen spielen und nicht nur auf der Bank sitzen und zuschauen,
* wenn die Kinderärztin mit dem Rad in die Praxis fährt,
* wenn die Oma mit zum Babyschwimmen geht...

Abschließend stellt sich angesichts so vieler motorischer Abenteuer die Frage: Ist der kindliche Bewegungsdrang nicht auch ganz schön gefährlich? Die Umgebung und die Bewegungsmöglichkeiten für Kinder müssen selbstverständlich gefahrlos, aber nicht risikolos gestaltet sein, denn Risiken sind (Bewegungs-)Herausforderungen, an denen Kinder lernen und wachsen. In diesem Sinne ist Bewegungs- und Wahrnehmungsschulung tatsächlich Unfallverhütung, denn je bewegungserfahrener das Kind, desto weniger unfallgefährdet ist es.

Literaturangabe
Nickel, U. (1990): Kinder brauchen ihren Sport, Pohl-Verlag. Celle

Dr. Uta Engels leitet das Sportzentrum der Universität Regensburg

Dieser Artikel erscheint auch in der Zeitschrift SportPraxis 5+6/2014 www.sportpraxis.com


  • Ausreichende Bewegung ist unerlässlich. (c)LSB NRW/Foto: Andrea Bowinkelmann
    Ausreichende Bewegung ist unerlässlich. (c)LSB NRW/Foto: Andrea Bowinkelmann