Prof. Dr. Lutz Vogt ist seit 2009 Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dort stellvertretender Leiter der Abteilung Sportmedizin. Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit sind hier u.a.: Bewegung und Sport in der Prävention und Rehabilitation; Gesundheitssport, kommunale und Betriebliche Gesundheitsförderung. Er ist langjähriges Mitglied im Sprecherrat der dvs-Kommission Gesundheit und wurde 2013 zum Vizepräsidenten der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) für die Bereiche Gesundheit und Bewegung gewählt. Seit 2010 ist er Mitglied im DOSB-Expertengremium SPORT PRO GESUNDHEIT und steht seit 2011 dem BISp als Gutachter zur fachlichen Beratung zur Verfügung.
Im Interview spricht er mit Fokus auf das Thema Gesundheit und Prävention über die Rollen, Funktionen und gemeinsamen Ziele der Sportwissenschaft und des organisierten Sports im politischen Spannungsfeld und über die Chancen, die das neue Präventionsgesetz in diesem Zusammenhang bietet.
Am 6. Oktober dieses Jahres feierte die dvs ihr 40-jähriges Jubiläum. Neben den an solchen Tagen üblichen Rückblicken eine gute Gelegenheit, einen Blick in die Zukunft zu wagen. Was sind die nächsten Ziele der dvs oder anders gefragt: Wohin will die Sportwissenschaft sich in den nächsten Jahren entwickeln?
PROF. DR. LUTZ VOGT: Da ich innerhalb des Vorstands der dvs den Bereich Gesundheit vertrete, fokussiere ich mich bei meiner Antwort auf diesen Bereich. Hier sind das „Memorandum zur Entwicklung der Sportwissenschaft“, das gerade neu verfasst wird und an dem ich zusammen mit Prof. Hottenrott für die dvs mitwirke, sowie auch das „Kern-Curriculum Sportwissenschaften“ für Bachelor-Studiengänge zwei wesentliche Elemente, die einerseits den Status Quo beschreiben, aber von da aus auch die Entwicklung in diesem Feld aufzeigen. An beiden Dokumenten, die auch mit dem DOSB abgestimmt werden sollen, arbeiten beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter von Fakultätentag, DGSP, DVGS, DSLV und asp* mit. Sie sind für Lehr- und Studieninhalte, die Standortentwicklung an Hochschulen und die zukünftige thematische Ausrichtung der Sportwissenschaft insgesamt von Relevanz. Das Thema Gesundheit spielt, nicht zuletzt auch aufgrund der stetig wachsenden Bedeutung am Arbeitsmarkt, in all diesen Bereichen eine große Rolle.
Mein Eindruck ist, dass die Sportwissenschaft zunehmend stärker als eine der wesentlichen Wissenschaften im Bereich Gesundheit und als kompetenter Partner wahrgenommen wird. Dies sowohl von benachbarten Fachgesellschaften wie der Sportmedizin, aber auch den verschiedenen Berufs- und Fachverbänden bis hin zu den Kostenträgern. So wurde die Sportwissenschaft im Kontext des Präventionsgesetzes bereits im Vorfeld der Entwicklung bis zur Verabschiedung gehört und auch jetzt im Nachgang, etwa bei der Bearbeitung des Leitfadens Prävention. Ich glaube, dass die Entwicklung der Sportwissenschaft in diese Richtung weitergehen wird, mit dem Ziel, dass sie sowohl auf Kostenträger- als auch auf Entscheider-Ebene noch besser vernetzt ist, in den entsprechenden Gremien gehört wird und auch vertreten ist.
Kurz zuvor, am 23. September ist in Karlsruhe die erste gemeinsame Jahrestagung der dvs-Kommissionen „Gesundheit“ mit der Kommission „Sport und Raum“ zu Ende gegangen. Welche Erkenntnisse haben Sie hier über die gesundheitliche Prävention durch Sport und Bewegung gewinnen können? Und konkret: Welche denkbaren Unterstützungsleistungen sehen Sie als Konsequenz aus der Tagung für den organisierten Sport?
Die Tagung hat die Wichtigkeit einer weiter zunehmenden Beteiligung von Sport- und Bewegungswissenschaftlern an der Stadtentwicklungsplanung deutlich gemacht. Etwa bei der Zusammenarbeit mit Grünflächenämtern, wenn es gilt, bewegungsanregende Gelegenheiten für körperliche Aktivität zu schaffen, ob für den Einzelnen oder auf kommunaler Ebene. Hier gibt es viele positive Entwicklungen, sei es beim Thema Bewegungsparcours, aber auch zunehmend bei der Planung und Gestaltung von Parkanlagen, mit dem Ziel, einfache niederschwellige Bewegungsgelegenheiten und Anreize zu schaffen sowie zielgruppengerechte Angebote zu entwickeln. Der Abbau von Hemmnissen und Barrieren ist hier ein großes Thema.
Ein wesentlicher Moment innerhalb der Tagung war auch die erstmalige Vorstellung der gerade fertig gestellten „Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung“ in Kooperation mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), die perfekt in diesen Kontext gepasst haben. Diese von einem mit zahlreichen Sportwissenschaftlern besetzten Expertenteam unter Leitung von Prof. Rütten und Pfeifer erarbeitenden Bewegungsempfehlungen haben für das körperliche Aktivitätsverhalten in Deutschland, auch oder gerade im Kontext des Präventionsgesetzes, sicherlich eine sehr große Bedeutung.
Damit ist es dem Kongress insgesamt gelungen zu zeigen, wie Prävention zu verstehen ist, nämlich im Sinne der zwei Dimensionen Verhältnis- und Verhaltensprävention. Es ist zu eng, Prävention nur als Maßnahme der Verhaltensmodifikation zu sehen. Denn es geht immer auch um die Verhältnisse, in denen wir uns bewegen. Also um die Person-Umwelt-Beziehung, aber natürlich auch um das Thema Setting, denn Prävention findet immer in einem bestimmten Setting statt.
Hier in Deutschland spielt das Setting "Sportverein" eine wichtige Rolle. Wenn es um die Angebotsfülle und um die Qualität der Angebote geht, ist Deutschland durch die Sportinfrastruktur, die der organisierte Sport geschaffen hat so gut aufgestellt, wie kein anderes Land. Allerdings hat die auf der Tagung von Prof. Rütten vorgestellte „Expertise zum ökonomischen Nutzen von Bewegung“ genau in diesem Setting ein Forschungsdefizit aufgezeigt. Und hier sind wir bei der Frage nach denkbaren Unterstützungsleistungen der Sportwissenschaft für den organisierten Sport: Denn die Expertise hat deutlich gemacht, dass es trotz der guten Zusammenarbeit von Sportwissenschaft und dem organisierten Sport und trotz der unvergleichlich guten Sportinfrastruktur die dank des organisierten Sports in Deutschland besteht, leider bislang nicht gelungen ist, die Wirksamkeit der zahlreichen qualitätsgesicherten Angebote in randomisiert kontrollierten Studien, d.h. Untersuchungen mit höchster wissenschaftlicher Aussagekraft, zweifelsfrei nachzuweisen. Um neben der bereits gut dokumentierten Qualität der Angebote, der Ausbildung und Prozesse auch die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit zu belegen, ist daher weitere Forschung erforderlich. Diese kann die Sportwissenschaft leisten, allerdings nur gemeinsam, da wissenschaftliche Studien aufwendig und damit immer auch ressourcen- und kostenintensiv sind.
Bei der Prävention arbeiten Sportwissenschaft und organisierter Sport eng zusammen. So nimmt der DOSB an den Sitzungen der dvs-Kommission Gesundheit teil. Sie sind wiederum Mitglied im DOSB-Expertengremium SPORT PRO GESUNDHEIT und an der Entwicklung von Angeboten beteiligt. Wie können Sportwissenschaft und organisierter Sport ihre Kräfte noch besser bündeln, um gemeinsam mehr für ein gesundes Sportdeutschland zu bewirken?
An mehreren Universitätsstandorten ist es inzwischen möglich, dass Studieninhalte der Sportwissenschaft für die Trainerausbildung anerkannt werden, dass Hochschulabsolventen im Rahmen ihres regulären sportwissenschaftlichen Studiums teilweise oder vollständig bestimmte Trainer-Lizenzen für z.B. Fußball erwerben. Entsprechend entwickelt sich auch die gegenseitige Anerkennung von Ausbildungsgängen und deren curricularen Inhalten. Das sind Themen, bei denen es vor dem Hintergrund einer zunehmenden Professionalisierung und eines verbesserten Theorie-Praxis-Bezugs wünschenswert ist, noch enger aufeinander zuzugehen. Dabei sollte das gegenseitige Lernen und aufeinander abstimmen im Vordergrund stehen, damit diese Welten nicht parallel existieren, sondern weiter verzahnt werden, so wie es bei der Akademisierung der Trainierausbildung an zwei Hochschulen schon der Fall ist.
Wenn es um das Bündeln der Kräfte geht, halte ich das gegenseitige Vertreten sein in den Gremien für unverzichtbar. So wie der DOSB zum Beispiel schon seit Jahren mit der dvs-Kommission Gesundheit kooperiert und umgekehrt die Sportwissenschaft in den Gremien des organisierten Sports vertreten ist, wie etwa die dvs, die im Verband für besondere Aufgaben (VmbA) entsprechend präsent ist. Diesen Dialog halte ich für ganz wichtig und bin der Meinung, dass er von allen Beteiligten unterstützt und belebt werden muss, damit er nicht abreißt. Speziell auch dadurch, sich gegenseitig in den Gremien zu hören und einzubringen. Dazu gehört auch, dass man, wie in der Vergangenheit, gegenseitig und regelmäßig auf den jeweiligen Tagungen vertreten ist, idealerweise mit Arbeitskreisen.
Nach einem langen Weg ist im vergangenen Jahr ein neues Präventionsgesetz verabschiedet worden. Im Gesetz sind explizit die qualitätsgeprüften Präventionssportprogramme unter dem Siegel SPORT PRO GESUNDHEIT sowie das „Rezept für Bewegung“ genannt. Welche Veränderungen können Sie seither in der Landschaft Prävention und Gesundheit feststellen?
Was auffällt ist, dass in diesem Feld starke Unsicherheit herrscht, vor allem auf Seiten der Krankenkassen und Kostenträger und hier speziell bei der Frage, wie die nun zur Verfügung gestellten Mittel sinnvoll zu verausgaben sind, denn noch sind viele Zuständigkeiten ungeklärt. Neben der Unsicherheit herrscht andererseits Druck, nämlich der, die Mittel kurzfristig ausgeben zu müssen, um sie nicht in einen zentralen Topf zurückzahlen zu müssen.
Positiv ist, dass das Thema Bewegung nach meinem Empfinden in den entsprechenden Gremien, die nun mit der Umsetzung befasst sind, gut vertreten ist. Die einzelnen Akteure die sich dem Komplex „Bewegung und Gesundheit“ verschrieben haben, rücken deutlich wahrnehmbar, näher zusammen, was dabei hilft, dass sie in den entsprechenden Gremien auch weiterhin gehört und zukünftig hoffentlich noch stärker „als eine gemeinsame Stimme“ wahrgenommen werden.
Ein strittiger Punkt, wenn es um die Umsetzung geht, ist die bislang mangelnde Transparenz der Arbeit der Zentralen Prüfstelle Prävention (ZPP). Diese Institution ist im Präventionsgesetz verankert und hat die Aufgabe, Präventionskurse nach § 20 Abs. 1 SGB V zu prüfen und zertifizieren. Sie vergibt nach erfolgreicher Prüfung das Prüfsiegel „Deutscher Standard Prävention“. Doch bislang sind die Prüfkriterien nicht transparent, nach denen entschieden wird, ob eine Maßnahme oder Anbieterqualifikation durch die Prüfstelle anerkannt wird. So wurden wiederholt Kurse, die bisher nach § 20 bezuschusst wurden, nicht mehr anerkannt, was zu massiver Kritik geführt hat. Viele, die länger im Bereich der Prävention aktiv sind, erinnern sich noch, wie Mitte der 1990er Jahre der § 20 gekippt wurde, weil damals keine evidenzbasierte Prüfung und keine Qualitätssicherung gefordert waren. Nun gibt es schon länger Qualitätskriterien, es gibt die Gesundheitsziele, es gibt den Leitfaden Prävention, doch das Dilemma ist, dass seitens der ZPP nicht transparent gemacht wird, welche Prüfkriterien angewandt werden und welche Personen mit welcher Kompetenz die Prüfungen vornehmen. Hier besteht also noch deutlicher Verbesserungsbedarf, es muss u.a. in Bezug auf die Prüfkriterien nachgearbeitet werden wobei es der wissenschaftlichen Expertise bzw. des entsprechenden Sachverstands bedarf. Mittlerweile sind aber auch alle Beteiligten für die Problematik hinreichend sensibilisiert und ich bin zuversichtlich, dass wir jetzt im November bei einem Treffen auf Einladung des GKV Spitzenverbands, mit dem gerade die dvs-Kommission Gesundheit zunehmend enger kooperiert, einer einvernehmlichen Lösung ein gutes Stück näherkommen.**
Welche Möglichkeiten sehen Sie für die Sportwissenschaft, sich bei der Umsetzung des Präventionsgesetzes einzubringen? Gibt es geplante oder bereits angelaufene Projekte oder Kooperationen, um die Umsetzung voranzutreiben bzw. konkrete Angebote zu entwickeln? Können Sie den organisierten Sport bei seinen Aktivitäten unterstützen?
Zentral geplante Maßnahmen oder Projekte innerhalb der Sportwissenschaft gibt es derzeit noch nicht, wohl aber an einzelnen Hochschulstandorten, wo bereits jetzt in Kooperation mit Krankenkassen lokale Maßnahmen initiiert und umgesetzt werden. Diese haben dann wiederum Modellcharakter für andere Standorte, so dass sich auf lokaler bzw. regionaler Ebene gerade in Zusammenarbeit mit den Kostenträgern diverse Projekte in Vorbereitung oder bereits in der Umsetzung befinden.
Zu Umsetzung des Präventionsgesetzes auf Bundesebene ist die Nationale Präventionskonferenz (NPK) im Gesetz verankert. Sie ist damit betraut, eine nationale Präventionsstrategie zu entwickeln und fortzuschreiben, legt hierfür bundeseinheitliche Rahmenempfehlungen vor und wird alle vier Jahre über die Entwicklung der Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland berichten. Einmal im Jahr wird sie im Rahmen einer Fachtagung, dem „Präventionsforum“, von Organisationen und Verbänden aus dem Feld der Gesundheitsförderung und Prävention beraten. Hier ist neben dem DOSB, dem Deutschen Behindertensportverband und dem Deutschen Turnerbund als Vertreter der Sportverbände auch die Sportwissenschaft vertreten. Das erste Forum, zu dem ich auch eingeladen war, fand jetzt am 13. September dieses Jahres statt. Schwerpunkt war die Betrachtung einzelner Zielgruppen und der Austausch darüber, wie und durch was diese erreicht werden können. Das spannende war hier, dass im Rahmen von Workshops jeweils verschiedene Akteure zu einem bestimmten Thema zusammengekommen sind. So haben Vertreter des organisierten Sports, der Sportwissenschaft, von Interessenverbänden und der Krankenkassen diskutiert, wie die Umsetzung von Präventionsangeboten bei einer bestimmten Zielgruppe geschehen kann. Dadurch ist es gelungen, Personen, die sonst in ihrer täglichen Arbeit nicht zwingend Berührungspunkte haben, zusammen zu bringen und zu ermöglichen, die gegenseitigen Perspektiven kennenzulernen. Vom Sachbearbeiter der Krankenkasse, dessen Fokus auf der Abrechenbarkeit liegt und der Fragen zur Zuständigkeit hat, also etwa, ob er in der Verantwortung ist, oder die Rentenversicherung, über den Sportwissenschaftler, der rein evidenzbasiert denkt bis zum Vereinsvertreter, dessen Schwerpunkt auf Angeboten liegt, die in seinem Verein bestehen. Hier gibt es viele Unschärfen, die durch den Austausch offengelegt wurden und dadurch mit einbezogen werden können.
Mit dem Präventionsgesetz sind auch neue Zielgruppen in den Fokus gerückt, auch für den DOSB. So ist beispielsweise der Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung durch das Gesetz wesentlich gestärkt. Hier ist der DOSB mit seinem Angebot „Bewegt im Betrieb“ bereits gut aufgestellt. Noch kaum Ansätze gibt es dagegen zum Beispiel für Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen, die häufig multimorbid, erst neu in den Fokus genommen werden. Insgesamt geht das Gesetz in punkto Prävention weit über die Primärprävention hinaus und richtet sich sekundär- und tertiärpräventiv auch an Personen mit vorliegenden gesundheitlichen Risiken bzw. chronisch Kranke. Hier geeignete Maßnahmen zu entwickeln und voranzubringen, ist ein Feld, in dem Sportwissenschaft und organisierter Sport gemeinsam einen wichtigen Beitrag leisten können.
*Anm. Abkürzungen : DGSP (Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention e.V.); DVGS (Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie e.V.); DSLV (Deutscher Sportlehrerverband e.V.); asp (Arbeitsgemeinschaft Sportpsychologie der DVS)
**Serviceplattform SPORT PRO GESUNDHEIT
Seit Oktober 2016 besteht in Abstimmung mit der Zentralen Prüfstelle Prävention die DOSB Serviceplattform SPORT PRO GESUNDEHIT, unter welcher Übungsleiter/innen mit einem zeitsparenden Online-Antrag transparent beide Siegel (Qualitätssiegel SPORT PRO GESUNDHEIT und Deutscher Standard Prävention) beantragten können.
(Quelle: wirkhaus)