Kooperationszentrum für Bewegung und Public Health in Europa (Kopie 1)

Im Interview berichtet Prof. Alfred Rütten über die Aufgaben des neuen WHO Zentrums und benennt Chancen und Möglichkeiten, die sich aus der internationalen Zusammenarbeit ergeben.

Herr Prof. Rütten (2.vl) mit Joachim Herrmann, (Sportminister Bayern), Dr. Joao Breda (WHO) und Prof. Karl-Dieter Grüske (Präsident der FAU) bei der Übergabe der Ernennungsurkunde. Foto: Erich Malter, Erich Malter Fotografie.
Herr Prof. Rütten (2.vl) mit Joachim Herrmann, (Sportminister Bayern), Dr. Joao Breda (WHO) und Prof. Karl-Dieter Grüske (Präsident der FAU) bei der Übergabe der Ernennungsurkunde. Foto: Erich Malter, Erich Malter Fotografie.

Das Institut für Sportwissenschaft und Sport (ISS) der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangen ist zum ersten Kooperationszentrum für Bewegung und Public Health der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Europa ernannt worden – und ist damit weltweit die erste sportwissenschaftliche Institution in einer solchen Rolle. Leiter des Instituts ist Prof. Dr. Dr. h.c. Alfred Rütten, der die WHO bereits seit 2005 berät sowie als Experte für die Europäische Kommission und für diverse Bundesministerien tätig ist.

Zunächst herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung. Wie kam es zu der Gründung des Kooperationszentrums für Bewegung und Public Health?

Die WHO ist immer auf der Suche nach wissenschaftlichen Spitzeneinrichtungen, die ihre fachliche Arbeit unterstützen können. Seit 15 Jahren berate ich die WHO in einzelnen Fachfragen, so dass hier seit langem gute fachliche und persönliche Beziehungen bestehen. Das ISS hat sich im letzten Jahrzehnt als Kompetenzzentrum für Sport und Gesundheit auch international bekannt gemacht. In den letzten zwei Jahren wurden diese wissenschaftlichen Leistungen bereits systematisch in eine Kooperation mit der WHO eingebracht. Durch die Ernennung zum Kooperationszentrum ist jetzt die dauerhafte Zusammenarbeit zwischen dem Institut und der WHO vereinbart worden.

Ziel des Zentrums, so wurde es bei seiner Eröffnung benannt, sei es herauszufinden, wie man Menschen für Bewegung begeistern kann. Wie wollen Sie sich diesem Ziel annähern?

Wir gehen davon aus, dass es kaum abgesicherte wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass sich Menschen allein durch Information und Motivationskampagnen zu dauerhaften Verhaltensveränderungen bewegen lassen. Vielmehr sind nach wissenschaftlichen Studien die Bewegungsmöglichkeiten und das soziale Umfeld ganz entscheidend. Dies gilt insbesondere für schwer erreichbare Zielgruppen, z.B. „Nichtbeweger" aus sozial benachteiligten Schichten. Dies bedeutet, dass erfolgreiche Bewegungsförderung nicht zuletzt die notwendigen strukturellen Voraussetzungen berücksichtigen und entwickeln muss. In diesem Sinne haben wir am ISS in verschiedenen Forschungsprojekten untersucht, wie gezielte Politik zur Sportförderung beitragen kann und wie durch Beteiligungs- und Befähigungsansätze sozial benachteiligte Gruppen zu mehr Bewegung animiert werden können. In den nächsten eineinhalb Jahren werden wir entsprechende Erkenntnisse in einen Europäischen Aktionsplan für Bewegungsförderung einbringen, den die WHO dann ihren 53 Mitgliedsländern in Europa empfehlen wird.

Als eine der Aufgaben haben Sie die Verwaltung einer internationalen Datenbank von politischen Maßnahmen zur Bewegungsförderung sowie eine Analyse bestehender sozialer Ungleichheiten in Bezug auf Bewegung benannt. Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland gerade auch mit Blick auf die nationalen Unterschiede ein?

In Deutschland ist die Bewegungsaktivität der Bevölkerung höher als im EU-Durchschnitt. Dies gilt für die sportliche Aktivität und noch ausgeprägter für Bewegung im Alltag. Die Sportvereine, die kommunalen Sport- und Bewegungsinfrastrukturen und die Landesförderung haben hierzu beigetragen. Demgegenüber war Bewegungsförderung als politische Maßnahme auf nationaler Ebene in Deutschland – z.B. im Vergleich zu den sehr aktiven skandinavischen Ländern oder den Niederlanden - lange Zeit kaum ein Thema. Das hat sich im letzten Jahrzehnt, z.B. mit der "3000 Schritte" Kampagne des Bundesgesundheitsministeriums und dem nationalen Aktionsplan für Ernährung und Bewegung „IN FORM", zum Positiven geändert. Heute kann man sogar feststellen, dass sich die Bundesregierung auch auf der europäischen Ebene für Bewegungsförderung stark macht und nicht zuletzt den angesprochenen Aktionsplan der WHO mit initiiert hat.

In Deutschland beschäftigt sich ja der organisierte Sport intensiv damit, wie man Menschen für Bewegung begeistern kann. Ist das in anderen Ländern ähnlich?

Ich bin seit vielen Jahren ein kritischer Wegbegleiter des organisierten Sports im Bereich von Bewegung und Gesundheit und ich muss zugeben, dass ich mir manchmal ein noch größeres Engagement bei der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Sportvereinen und -verbänden gewünscht hätte. Durch meine internationalen Projekte und Erfahrungen der letzten Jahre ist mir jedoch auch bewusst geworden, dass es kaum ein Land in Europa oder sogar weltweit gibt, in dem der organisierte Sport ein derart zentrale Rolle bei der politischen und flächendeckenden Förderung gesundheitsorientierter Bewegungsförderung spielt.

Der organisierte Sport hat in Deutschland beispielsweise das Qualitätssiegel „SPORT PRO GESUNDHEIT" ins Leben gerufen, welches mittlerweile über 19.000 Mal zu finden ist. Ebenso das „Rezept für Bewegung", bei dem Ärzte als Multiplikatoren für Bewegung und Sport fungieren. Wie bewerten Sie diese Instrumente und ist es vorstellbar, sie in Ihre Arbeit zu integrieren?

Das „Rezept für Bewegung" ist meines Wissens keine deutsche Erfindung, sondern wurde in anderen Ländern schon vor Jahren eingeführt. Nichtsdestoweniger ist es in der spezifischen deutschen Spielart mit der zentralen Beteiligung der Sportorganisationen ein Ansatz, der durchaus Sinn macht. „SPORT PRO GESUNDHEIT" ist demgegenüber ein Programm, das ich in dieser Art und Größenordnung nicht aus anderen europäischen Ländern kenne. Es wäre sehr wünschenswert, wenn andere Länder von diesen Erfahrungen profitieren könnten. Allerdings ist hierbei, wie bei jedem Transfer-Ansatz, der unterschiedliche Kontext in diesen Ländern angemessen zu berücksichtigen. Insofern gibt es nach unseren wissenschaftlichen Konzepten keine „Patentrezepte", sondern erfolgreicher Transfer ist an systematische Anpassung des Programms und Kapazitätsentwicklung gebunden. In diesem Zusammenhang könnte ich mir eine internationale Zusammenarbeit mit dem organisierten Sport sehr gut vorstellen.

Inwieweit können Sie für Ihre Arbeit von den Erfahrungen aus Sportvereinen profitieren und gibt es Pläne, für die Erreichung Ihres Ziels auch Organe des DOSB und anderer nationaler und internationaler Sportverbände mit einzubeziehen?

Mit dem DOSB und verschiedenen Landessportbünden arbeiten wir seit Jahren eng zusammen. So sind wir als Institut aktuell für die wissenschaftliche Begleitung eines DOSB Projekts verantwortlich, bei dem es um die Gesundheitsförderung von älteren Migranten durch den organisierten Sport geht. Außerdem kooperieren wir u.a. mit dem Bayerischen Landes-Sportverband seit langem im BIG Projekt. BIG steht für Bewegung als Investition in Gesundheit und hat das Ziel, die Chancen von Frauen in schwierigen Lebenslagen zu verbessern, an den vielfältigen positiven Effekten von Bewegung teilzuhaben. Aber auch mit internationalen Sportorganisationen haben wir schon zahlreiche Kooperationserfahrungen gesammelt, zuletzt im Rahmen des EU geförderten MOVE Projekts, bei dem es unter Leitung der ISCA (International Sport and Culture Association) darum ging, Sportorganisationen bei der Bewegungsförderung von sozial benachteiligten Gruppen zu unterstützen. In all diesen Projekten bündeln wir letzten Endes die Wissensbestände und Kompetenzen, die der organsierte Sport einbringen kann, mit dem wissenschaftlichen Know-how, das wir beisteuern können.

Mit der Umsetzung der ersten Aufgabe - nämlich eine politische Strategie für Sport- und Bewegungsförderung für die 53 Länder der WHO-Europaregion zu entwickeln – haben Sie bereits begonnen. Hierzu fand Ende März am Institut für Sportwissenschaft und Sport ein Workshop statt, in dem FAU-Wissenschaftler zusammen mit ausgewählten Regierungsvertretern aus elf Ländern sowie eine kleine Gruppe internationaler Experten einen Zeitplan für das Projekt erarbeiten haben. Können Sie uns einen kleinen Einblick über die Inhalte und Ergebnisse geben?

Es wurde, wie von Ihnen erwähnt, sowohl ein konkreter Zeitplan für die kommenden Monate aufgestellt als auch über die inhaltlichen Hauptelemente diskutiert. Für mich – und wohl auch einige beteiligte politische Entscheidungsträger – war beeindruckend, wie offen der Austausch zwischen den beteiligten Mitgliedsstaaten und Experten geführt wurde. Es gab großes Interesse an Empfehlungen, die die Kontexte unterschiedlicher Länder ernst nehmen. Wir haben ebenfalls über mögliche Kooperationen mit anderen internationalen Organisationen und die Beziehung zwischen der Strategie mit bereits existierenden WHO Rahmenrichtlinien, Strategien und Aktionspläne geredet. Darüber hinaus haben wir Erfahrungen und Good Practice Beispiele von den verschiedenen Mitgliedsstaaten gesammelt, die möglicherweise zur Entwicklung der Strategie beitragen könnten.

Welche politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen aus Ihrer Sicht gegeben sein, um den Menschen einen leichten Zugang zu einem gesunden Lebensstil zu ermöglichen?

Wir sind bei dem Thema „gesunder Lebensstil" gerne geneigt, einseitig entweder in verhaltenspräventiven, also „die Verantwortung des Einzelnen stärken", oder verhältnispräventiven Kategorien, sprich „die notwendigen Strukturen schaffen" zu denken. Eine wesentliche Bedingung für die Förderung gesunder Lebensstile ist jedoch, die Wechselwirkungen zwischen Verhalten und Verhältnissen zu berücksichtigen. Um beispielsweise „bewegungsferne Schichten" für den Sport zu gewinnen, reicht es nicht aus, Sportgeräte oder Sportanlagen in der Nachbarschaft anzusiedeln. Vielmehr kommt es darauf an, über Beteiligungs- und Befähigungsansätze entsprechende Zielgruppen sowie Sportvereine, professionelle Gruppen und politische Entscheidungsträger in die Schaffung der entsprechenden Rahmenbedingungen einzubeziehen. Nur so können die gefundene Lösungen - sei es zum Beispiel eine Frauenbadezeit, die es muslimischen Frauen ermöglicht, Schwimmen zu lernen, oder sei es ein Bewegungsangebot für Senioren, das ein Sportverein in einer Sozialeinrichtung im Wohnquartier organisiert - kontextadäquat und nachhaltig gestaltet werden.

Wie sähe es in Bezug auf Gesundheit und Bewegung in der Welt aus, wenn Sie Ihr Ziel - herauszufinden, wie man Menschen für Bewegung begeistern kann - erreicht hätten?

Wir haben bereits umfangreiche wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, wie man Menschen für Bewegung begeistern kann. Einige Ansätze habe ich in den bisherigen Antworten zu skizzieren versucht. Insofern interessiert uns gegenwärtig vor allem, wie man dieses Wissen in die Praxis umsetzen kann. In einem vom Bundesforschungsministerium geförderten Forschungsverbund im Bereich Prävention, der vom ISS koordiniert wird, werden wir uns in diesem Sinne in den kommenden Jahren damit beschäftigen, wie durch eine gezielte Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik und Sportpraxis die nachhaltige Entwicklung bewegungsaktiver Lebensstile über den gesamten Lebenslauf, d.h. von der Kindertagesstätte bis zum Altenheim, gefördert werden kann. Das Thema „soziale Gerechtigkeit" wird uns dabei stets begleiten. Denn die Gefahr ist groß, dass durch gutgemeinte Ansätze der Bewegungsförderung, die zum Beispiel einseitig auf Information und individuelle Verantwortung setzen, primär diejenigen erreicht werden, die ohnehin eher aktiv und gesellschaftlich besser gestellt sind. Damit kann dann der Graben der sozialen Ungleichheit im Hinblick auf Sport und Bewegung, d.h. indirekt die gesundheitliche Ungleichheit, unwillentlich vergrößert werden.

Herzlichen Dank für das Interview und weiterhin alles Gute und viel Erfolg!

 


  • Herr Prof. Rütten (2.vl) mit Joachim Herrmann, (Sportminister Bayern), Dr. Joao Breda (WHO) und Prof. Karl-Dieter Grüske (Präsident der FAU) bei der Übergabe der Ernennungsurkunde. Foto: Erich Malter, Erich Malter Fotografie.
    Herr Prof. Rütten (2.vl) mit Joachim Herrmann, (Sportminister Bayern), Dr. Joao Breda (WHO) und Prof. Karl-Dieter Grüske (Präsident der FAU) bei der Übergabe der Ernennungsurkunde. Foto: Erich Malter, Erich Malter Fotografie.