Es ist nie zu spät, mit Sport oder mehr Bewegung zu beginnen

Der Sportmediziner Prof. Dr. Winfried Banzer von der Goethe-Universität Frankfurt am Main plädiert im Interview für konkrete Hilfsangebote von Medizinern für Patienten.

Regelmäßige Bewegung hilf Krankheiten vorzubeugen oder zu lindern. Foto: picture-alliance
Regelmäßige Bewegung hilf Krankheiten vorzubeugen oder zu lindern. Foto: picture-alliance

Patienten, die wegen Herzkreislaufbeschwerden, Diabetes oder Rückenschmerzen zum Arzt gehen, erhalten bei Bedarf das nötige Medikament und dazu einen guten Rat: „Sie müssen mehr Sport treiben“. Für viele Patienten ist es jedoch schwierig, einen so pauschalen Hinweis umzusetzen. Deshalb könnte es hilfreich sein, wenn Mediziner eher konkrete Hilfen anbieten, wie ihre Patienten das richtige Bewegungsangebot finden. Darüber spricht der Sportmediziner Prof. Dr. Winfried Banzer von der Goethe-Universität Frankfurt am Main, der auch Mitglied im  Beirat Sportentwicklung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ist, im folgenden Interview mit TK-Spezial, dem Informationsdienst der Techniker Krankenkasse: 

Inwieweit setzen Sportmediziner Sport als Therapie bei chronisch Kranken ein?

PROF. WINFRIED BANZER: Die Ansätze, Sport als entscheidenden Faktor in der Genesung bestimmter Krankheiten einzusetzen, werden breiter und differenzierter. Wir sind aber noch am Anfang, weil wir bei einigen chronisch Kranken erst jetzt beginnen, Training gezielt und individuell zu dosieren. Wir sind dabei herauszufinden, welches Bewegungsmaß und welche Bewegungsformen zu bestimmten Krankheitsbildern passen. Also wie viel Training und wie oft? Welche Intensität? Wie und wann setzen wir Pausen ein? Sowie hier genug Erkenntnisse gewonnen sind, müssen wir die Ärzte noch viel mehr motivieren, ihre Patienten über Sport und Bewegung ebenso selbstverständlich zu beraten, wie sie sie über Medikamente informieren.

Wie könnte den Ärzten das gelingen?

Die behandelnden Mediziner sollten die Angebote kennen und sich mit Anbietern vernetzen, damit sie ihren Patienten konkrete Ansprechpartner vermitteln können. Bereits bestehende Netzwerke sollten sie besser nutzen. Der Deutsche Olympische Sportbund zeichnet mit dem Qualitätssiegel SPORT PRO GESUNDHEIT Vereine aus, die gesundheitsorientierte Sportkurse anbieten. In einem sogenannten Rezept für Bewegung können sie außerdem körperliche Aktivität empfehlen und den Übungsleitern wichtige Informationen zukommen lassen. Wenn Mediziner gut vernetzt sind, könnten sie ihre Patienten auf diese Angebote aufmerksam machen. Aber auch die Arbeitsumgebung muss endlich wahrnehmen, dass Bewegungsmangel ein großes Gesundheitsrisiko darstellt, und zwar im selben Maße wie Rauchen. Wir müssen die Verhältnisse ändern, um die Menschen zu Hause zu erreichen. Sport muss ein Teil des Systems werden. Wir haben die Strukturen des organisierten Sports, aber erreichen damit zu wenige Betroffene. Zum Beispiel Langzeiterwerbslose. Sie sind für Gesundheits- und Bewegungsangebote schwer erreichbar. Das Projekt Aktivierende GesundheitsInitiative für Langzeiterwerbslose (AGILer) setzt hier an. Mediziner, Akteure der Beschäftigungsförderung und beauftragte Bil-dungsträger sollten darüber aufklären können.

Kann Sport Medikamente ersetzen?

Soweit würde ich nicht gehen. Aber Sport kann den Medikamentenkonsum sicher reduzieren und in manchen Bereichen chronische Leiden bessern – besonders bei Bluthochdruck oder der koronaren Herzkrankheit. Studien haben gezeigt, dass regelmäßiges sportliches Training ohne eine Stent-Operation denselben positiven Effekt auf die Genesung des Menschen hat, als hätte man der Person nur den Stent eingesetzt. Aber, Bewegung ist hier nicht mit Gartenarbeit gleichzusetzen. Wenn man blutdrucksenkende Effekte erreichen will oder eine Operation umgehen möchte, dann muss man regelmäßig Sport treiben. Nur so lassen sich Medikamente hervorragend durch Sport ergänzen und gegebenenfalls reduzieren.

Was bedeutet eine durch Sport trainierte, leistungsstarke Muskulatur für einen chronisch Kranken, etwa für Diabetiker oder Krebskranke?

Die Muskulatur ist das größte Organ im Körper. Je mehr Muskulatur ein Mensch hat, umso höher ist sein Grundumsatz und sein Energieverbrauch – übrigens auch im Schlaf. Mehr Muskulatur hilft deshalb dabei abzunehmen. Andere wichtige Effekte einer aktiven Muskulatur sind die freigesetzten Botenstoffe, die sogenannten Myokine. Sie wirken antientzündlich und halten die Gefäße elastisch. Je mehr Muskulatur der Mensch aufbaut, umso stärker sind diese Effekte. Ein Muskelaufbautraining bewirkt auch, dass Zucker verstärkt am Muskel ausgeschüttet wird. Störungen der Bauchspeicheldrüse werden so verhindert oder reduziert. Zudem bewirken bestimmte Myokine eine bessere Aufnahme von Glucose in den Muskel, für Diabetiker ist das ein schwieriger Prozess. Auch wissen wir, dass Nervenzellen im Gehirn durch regelmäßige Bewegung aufgebaut werden, was für Alzheimerkranke wichtig ist und gegen Depressionen hilft. Bei Krebskranken reduziert ein Krafttraining in vielen Fällen das Fatigue-Syndrom und holt die Menschen aus der Isolation. Weiter darf man die sozialen Aspekte nicht vergessen, die Menschen bei Sport und Bewegung in der Gruppe erleben. Bewegung trägt einen wichtigen Teil zur besseren Lebensqualität dieser Menschen bei. Auch kann Sport vor einer Neuerkrankung schützen, vor allem bei Brust-, Darm- und Prostatakrebs wissen wir um die geringere Rate für Rezidive.

Oft empfehlen Ärzte den chronisch kranken Patienten Ausdauersportarten zu treiben, um abzunehmen oder den Blutdruck zu senken. Ein Trainingseffekt ist auch, dass das Herz mit der Zeit langsamer schlägt. Weshalb ist das sinnvoll?

Der Ausdauersport bewirkt, dass sich das vegetative Nervensystem anpasst und seine Funktion verbessert, weil sich die parasympathische Erregung hin zu einer vagotonischen Erregungslage verschiebt. So schlägt das Herz langsamer und pro Belastung muss es weniger leisten. Wer seine Herzfrequenz durch Training um zehn Schläge pro Minute reduziert, spart im Jahr über 315 Millionen Herzschläge. Dies entlastet das Organ und führt zu einer besseren Lebenserwartung, einer geringeren Mortalität und Morbidität. Im Klartext: Wer zu Fuß im dritten Stock ankommt und dafür weniger Herzschläge benötigt, dem bleibt einfach mehr Power übrig.

Ist Bewegung auch für alte Menschen noch wirkungsvoll und, wenn ja, auch dann, wenn sie sich bereits früher kaum bewegt haben?

Es ist nie zu spät, auch wenn man erst im Alter mit Sport oder mehr Bewegung be-ginnt. Und bei Menschen über 70 Jahre reicht oft auch schon mehr Alltagsbewegung aus, um positive gesundheitliche Wirkungen zu erzielen. Mehr Bewegung heißt dann einfach mehr Fußwege oder Spaziergänge. Und trainierte ältere Menschen sind in allen Altersstufen jüngeren Untrainierten in der körperlichen Belastbarkeit überlegen.

Welche Erfahrung war für Sie bislang am bedeutsamsten, nachdem Sie es geschafft haben Menschen, zur regelmäßigen Bewegung zu motivieren.

Wenn ich aus dem Fenster schaue und sehe wie meine Krebspatienten bei Schnee, Regen und Eis – wirklich bei jedem Wetter – zum Nordicwalking rausgehen, wenn ich die Compliance der Menschen sehe, das strahlende Lächeln von Menschen, die es geschafft haben Bewegung in ihr Leben zu integrieren – das vergesse ich nie. Das motiviert mich sehr, weiter daran zu arbeiten, dass Sport und Bewegung in unserer Gesellschaft auf allen Ebenen einfach selbstverständlich werden.

Hintergrund:

In dem Projekt AGILer (Aktivierende GesundheitsInitiative für Langzeiterwerbslose) sind bereits 4.500 Personen durch die Abteilung Sportmedizin der Goethe-Universität Frankfurt bewegungs- und ernährungsbezogen beraten worden. Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Menschen, die schon seit Jahren arbeitslos sind, leben oft ungesund und sind zudem für Gesundheitsprojekte schwer zugänglich. Mit dieser Aktion steigen die Chancen, diese Bevölkerungsgruppe zu erreichen.

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 36)


  • Regelmäßige Bewegung hilf Krankheiten vorzubeugen oder zu lindern. Foto: picture-alliance
    Regelmäßige Bewegung hilf Krankheiten vorzubeugen oder zu lindern. Foto: picture-alliance